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Warum es nicht ausreicht, unsere Kindheit aufzuarbeiten

Gestern war ich in der Ausstellung „SEX. Jüdische Positionen“ im jüdischen Museum. Ein sehr vielschichtiges Thema, das wurde deutlich. Und doch ist eins klar: Die Ehe als institutionalisierte Verbindung von Mann und Frau wurde erfunden, um die (Religions-)Gemeinschaft der Menschen aufzubauen und zu stabilisieren, aber sie fußte von Anfang an auf dem Prinzip der Unterwerfung der Frau, auf Angst vor den eigenen Trieben, auf Macht und Kontrolle. Dieses biblische Erbe wirkt auch heute noch in unseren Beziehungen.

 

Im (orthodoxen) Judentum gibt es bis heute strenge Regeln darüber, wie eine Ehe zu führen ist. Was mich besonders beeindruckt hat, war nicht nur das Ritual der Mikwe, ein rituelles Bad, mit dem sich die Frauen sieben Tage nach ihrer Blutung reinigen (bis dahin sind sie unberührbar), sondern auch der Gebetsgürtel, mit dem Männer ihre Taille binden, um symbolisch die Verbindung zwischen Geist und Geschlecht zu trennen. Zugleich gibt es aber auch die Pflicht des Ehemannes, seine Frau zu befriedigen, am besten am Schabbat. Die Frequenz darf variieren, je nach seinem Beruf und der zeitlichen Kapazität.


"Gott segnete sie und sprach zu Ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie."

Genesis 1.28

Mich beschäftigt dabei vor allem diese eine Frage: Warum ist der Mensch die wahrscheinlich einzige Spezies, die ihre eigene Natur verleugnet und Formen des Zusammenlebens kreiert, die ihren Bedürfnissen entgegenstehen?



In aller Ambivalenz zeigt die Ausstellung neben dem Liebesleben und der Kunst moderner und queer-feministischer Juden aber auch die spirituelle Seite der Vereinigung von Mann und Frau. Das „Lied der Lieder“ ist voller Poesie und Erotik und wird übertragen auf die Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und Gott. Diese Ebene hüllt all die harschen Gesetze in eine Wolke aus Verehrung und Ehrfurcht. Andererseits öffnet sich hier ein anderer Blick auf die körperliche Liebe, die ja auch die Erfahrung einer spirituellen Ekstase beinhalten kann und als solche auch immer schon Teil der Sinnsuche des Menschen war. Hier spürt man die Sehnsucht, das Menschliche, die Liebe.


Heiliger Sex.

"...Aus der Sicht der Mystiker besitzt die Verbindung von Männlichem und Weiblichem die Fähigkeit, die göttliche Ordnung zu erneuern."

SEX. Jüdische Positionen.
Ausstellung des jüdischen Museums Berlin.

Liebe ist und bleibt einfach immer die Antwort - auch die Liebe, die ihren körperlichen Ausdruck findet. Liebe ist immer da, entgegen allen Versuchen des Menschen, Kontrolle oder Macht auszuüben, Gefühle zu vermeiden oder Verletzlichkeiten aus dem Weg zu gehen. So einfach ist das. Und doch so schwer. Denn wir alle tragen die Päckchen der Geschichte, die kulturellen Rollenbilder, die Prägungen durch die Art, wie uns Beziehungen vorgelebt wurden und werden. Wir sind nicht „frei“ und können uns auch nicht wirklich miteinander verbinden, solange wir uns dessen nicht bewusst sind.


Und daher können wir in Paar- und Psychotherapie unsere Bindungsmuster nicht aufarbeiten, ohne kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Hintergründe mit einzubeziehen. Wie Emilia Roig in ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ ausführt, werden unsere Bindungsstile durch geschlechtsspezifische Rollenmuster verstärkt und beeinflusst. Sie zitiert eine 2020 durchgeführte wissenschaftliche Studie (Giacomo Ciocca et al.: Attachment Style, Sexual Orientation and Biological Sex in their Relationship with Gender Role, in: Sexual Medicine, Bd. 8, Nr. 1, 2020, S. 76-83), die zeigt, dass sowohl Frauen als auch Männer sichere Bindungen eingehen können. Doch während Männlichkeit meist mit dem vermeidenden Bindungsstil verknüpft ist, geht Weiblichkeit mit ängstlich-besorgter Bindung einher (Roig, S. 276).


Die Dynamik aus Druck und Distanz, die sich daraus ergibt, beobachte ich auch häufig in meiner Praxis. Umso mehr die Frauen darum kämpfen, sich nicht allein gelassen zu fühlen, umso mehr ziehen sich die Männer hinter einer Mauer der emotionalen Unerreichbarkeit zurück. Beides kann unterschiedlichste Formen annehmen - von Klammern, Fordern und Kontrollieren bis zu Streitereien oder Rückzug in Arbeit oder Hobbies und sexuelle Entfernung. Dabei sehnen sich beide nach Nähe und Verbindung - fühlen sich aber nicht sicher miteinander. Nicht sicher in ihren Körpern, in ihren Rollen, in ihrer Sexualität. Die Gründe dafür liegen aber nicht allein im Individuum.


Die Beschäftigung mit der eigenen Herkunftsfamilie kann den Blick auf das große Ganze und den systemisch-strukturellen Kontext aufmachen. Und wir können auch gesellschaftlich viel bewirken, wenn wir bei uns selbst anfangen und Partnerschaften kreieren, in denen wir uns wirklich auf Augenhöhe begegnen. Partnerschaften, in denen wir uns zeigen und als ganzer Mensch da sein können - unabhängig von unserem Geschlecht, mit unseren Gefühlen, unserem Begehren, unseren Bedürfnissen. Wenn wir uns beide Ebenen bewusst machen (die individuelle und die strukturelle), können wir eine integre Form der „Ehe“ oder Lebenspartnerschaft kreieren: eine liebevolle, lebendige, gleichberechtigte und freie Verantwortungsgemeinschaft - die sich mit uns mitentwickelt.


Auch die Ausstellung zeigt ein Exponat, mit dem liberale Juden einen Schritt auf diesem Weg gehen. Es ist eine Art Vertrag über den Bund der Ehe. Hier ein Auszug aus dem Text:


The following are the provisions of the lovers`covenant into which .... and.....now enter:
... and... declare that they have chosen each other as companions, as our rabbis teach:

Get yourself a companion.


This teaches that a person should get a companion, to eat with, to drink with, to study bible with, to study mishnah with, to sleep with, to confide all ones`s secrets, secrets of Torah and secrets of worldly things.

... and ... hereby assume all the rights and obligations that apply to family members: to attend, care, and provide for one another (and for any children with which they may be blessed). .

... and.... committ themself to a life of kindness and righteousness as a jewish family and to work together toward the communal task of mending the world.

.. and ... pledge that one will help the other at the time of dying, by carrying out the last rational requests of the dying partner, protecting him/her from indignity or abandonnement and by tender, faithful presence with the beloved until the end, fulfilling what has been written:

Set me as a seal upon your arm, for love is stronger than death (song of songs 8:6).


Der Brit Ahuwim ist eine egalitäre Alternative zur jüdischen Hochzeitszeremonie. Ursprünglich von der amerikanischen Theologin Rachel Adler für ihre eigene Hochzeit entwickelt, wurde sie von progressiven jüdischen Gemeinden weitgehend übernommen. Im Unterschied zur tratitionellen Kidduschin-Zeremonie, in der ein Ehemann seine Ehefrau "erwirbt", bietet der Bund der Liebenden die rechtliche Grundlage für eine Ehe, in der sich beide Partner Recht und Pflichten gleichermaßen teilen.
SEX. Jüdische Positionen.
Jüdisches Museum Berlin.

Was bedeutet es für uns heute, eine (Lebens-)Partnerschaft einzugehen? Welche Art von Gefährtentum wünschen wir uns, was brauchen wir sexuell, was wollen wir in Beziehung leben? Welche Vision teilen wir, welche Werte leiten uns? Wie wollen wir füreinander da sein?


Wir sind aufgerufen und frei, gemeinsam einen integren Rahmen zu kreieren, um unsere Liebe und unser Leben zu gestalten - bedürfnis- und sinnorientiert, bewusst und verantwortlich.


Bilder der Ausstellung kann ich aus urheberrechtlichen Gründen hier nicht zeigen. Es gibt aber einen Katalog, der im Shop des jüdischen Museums erworben werden kann.
 
 

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© 2024 by Anne van Dülmen

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